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    Bonsai

    Selbstbestimmtes Leben:

    Der Bonsai


    Bonsai

    Geboren wurde ich in einem wunderschönen Buchenwald. In der Baumschule lernte ich meine ersten kleinen Schritte zu wagen. Mit großen Augen schaute ich jeden Morgen zu den Sonnenstrahlen, die zwischen den Ästen meiner großen, starken und wuchtigen Onkeln und Tanten hindurch blinzelten und meine Blicke verzauberten. Wir Buchenkinder genossen dieses Schauspiel und wir waren glücklich.
    In unserer Baumschule lagen im Herbst Tausende von Bucheckern, klein und ganz braun, mit scharfen Kanten.
    „Das sind unsere Samen“, sagte die Buchenkindergärtnerin. „Eines Tages seid Ihr auch so groß wie Eure Eltern und Tanten hier im Wald, und Ihr werdet auch diese Früchte tragen, damit es immer Buchenbäumr auf der Welt gibt…“
    Wir genossen unsere Freiheit und wir freuten uns über jeden Tag an dem wir spielen, lachen und wachsen durften.
    Und dann kam das Unglück zu mir. Ein Mann stieg über den Zaun unserer Baumschule. Dabei sah er sich vorsichtig um. Wir kicherten über ihn, weil er Angst hatte zu uns zu kommen.
    Dann, plötzlich, ergriff er mich, riss mich aus meinem warmen und festen Boden, meine kleinen Wurzeln fingen an zu zittern und ich begann zu weinen. Meine Eltern rüttelten kräftig Ihre Äste, dass das Laub auf den Boden fiel. Sie waren in Panik um mich, ihr Kind wurde entführt und sie konnten nichts machen. Die Buchenkinder hielten sich vor Schreck die Augen zu und wollten mich mit ihren kleinen Ästen festhalten. Da wurde es dunkel um mich. Der Kerl hat mich einfach in einen Sack gesteckt.
    Verängstigt, verzweifelt und einsam lag ich im Kofferraum seines Autos. Niemand meiner Buchenverwandten konnte mir helfen. Ich war verloren. Ich war so alleine.
    Mir liefen die Tränen über mein Gesicht und meine Arme. Bitte, Gott, bitte, bring mich zurück zu meinen Eltern, Onkeln und Tanten, bring mich zurück in meine Baumschule zu meinen Freundinnen und Freunden.
    Nichts geschah, gar nichts. Ich wurde weiter durchgeschüttelt und durchgerüttelt wegen der Löcher in dem Waldweg. Es geschah kein Wunder.
    Der Wagen hielt in einem Hof. Ich wurde aus dem Kofferraum geholt und in eine Werkstatt gebracht. Vorsichtig nahm mich der böse Mann aus dem Sack. Ich schaute mich um.
    War ich glücklich!!! Ich war nicht alleine. Viele viele kleine Buchenbäumchen standen da in Reih und Glied aufgereiht in tönernen Töpfen. Schön waren sie anzuschauen. Solch kleine Buchenbäumchen hatte ich noch nie gesehen. Sie sahen alle fast gleich aus, hatten schon dicke Stämme und kleine Blättchen. Ich verstand das nicht. Eigentlich müssten sie schon größer sein…
    Und die Ästchen, sie waren alle mit Draht verbunden. Waren die Bäumchen krank?
    Plötzlich fraß sich ein Riesenschmerz in mich hinein. Voller Verzweiflung schrie ich auf. Was geschah mit mir. Ich schaute an mir herunter. Der Mann hatte mich zwischen seine Finger genommen und er schnitt mir meine Wurzeln fast ganz ab. Meine Wurzeln! Ich brauche die doch um groß und stark zu werden. Oh, was geschah nur mit mir? Ich war so verzweifelt.
    Die Schmerzen waren unerträglich. Als er an den Wurzeln fertig war, beschnitt er meine Zweige, das tat Gott sei Dank nicht so weh und er drehte Drähtchen um meine kleinen schönen Zweige. Meine Verzweiflung wurde zu groß und ich wurde ohnmächtig.
    Als ich wieder zu mir kam, war ich auch in einen Topf gepflanzt und ich stand in Reih und Glied mit den anderen kleinen Buchenbäumchen. Meine Erde war nass und so konnte ich wenigstens ein wenig Wasser trinken.
    Ich war unglücklich und so traurig. Was sollte nur aus mir werden.
    „Hey“, hörte ich jemand rufen „hey, sei nicht so deprimiert!“ Mein Nachbarbäumchen schaute zu mir her.
    „Sei nicht so traurig“ sagte es zu mir, „Sei nicht so traurig, Du wirst Dich in einigen Tagen besser fühlen…“ Und dann erzählte es mir von seinem Leben. Auch es wurde aus einer Baumschule entführt, vor drei Jahren schon. Das Bäumchen konnte sich kaum noch an seine Freiheit erinnern. Es erzählte mir weiter wie gut es ihnen gehen würde. Sie würden immer im Trockenen stehen, bekämen regelmäßig Wasser und Dünger und sie könnte so wachsen wie der Mann es für sie vorherbestimmt hätte. „Wir müssen uns keine Gedanken mehr über unser Leben machen“ sagte es voller Zufriedenheit, „für uns ist gesorgt…“
    „Aber ihr seid so klein, Ihr seid doch gar keine richtigen Buchen“, schluchzte ich. Das ist doch nicht der Sinn unseres Lebens so klein zu bleiben, wir gehören doch in den Wald und nicht hier in einen so blöden Topf; schluchzte ich.
    Nein, so leben wolle ich nicht, und ich wollte auch nicht so aussehen wie die andern Bäumchen. „Ich will groß und stark werden“, sagte ich mir immer wieder, „ich will groß und stark werden, ich werde groß und stark!“
    Nach einem Monat hier in meinem neuen Zuhause, brach mir fast das Herz, ich kam nicht weiter. Dabei strengte ich mich so an, anders zu werden wie die Bäumchen.
    Mein Wille war so stark, dass meine Würzelchen anfingen schneller zu wachsen, meine Ästchen dehnten und reckten sich und meine kleinen grünen Blättchen wuchsen aus der Umklammerung des Drahtes hinaus.
    Dann kam dieser Mann wieder mit der Schere in der Hand. Er sah mich kritisch an, schüttelte seinen Kopf und riss mich wieder aus meiner Erde heraus. Und wieder schrie ich auf, als die scharfe Schere in meine Wurzeln drang und diese wieder klein machte. Meine Äste und meine kleinen, schönen, grünen Blätter wurden ausgerissen und weggeworfen. Dann setzte mich dieser eigenartige Mensch wieder in das Erdreich im Topf.
    „Du bist selbst Schuld an Deinem Unglück“, riefen mir die anderen Buchenbäumchen zu. „Warum verhältst Du Dich nicht so wie es von Dir gewünscht wird“, fragten sie mich hochnäsig. „ Du bist wirklich undankbar“ riefen sie mir zornig zu.
    Lieber wollte ich sterben, als mir ein Leben aufdrängen zu lassen, das ich nicht leben mochte. Ich bin eine Buche und kein Spielzeug sagte ich zu mir. „Ich will nicht künstlich Kleingehalten werden, ich will mich frei entwickeln können und so leben wie ich es möchte, niemand soll über mich bestimmen wie ich aussehen soll und was ich machen soll“ Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, immer wieder, tagein, tagaus, Woche für Woche, Monat für Monat.
    Umsonst, alles umsonst. Immer wieder wurden mir die Wurzeln abgeschnitten, die Äste mit Draht festgebunden, meine Blättchen ausgerissen.
    Ich wollte nicht mehr, nein, ich wollte einfach nicht mehr. Entweder ich konnte so leben wie ich wollte und so wie es meine Bestimmung als Buche ist oder ich wollte sterben.
    Traurig und weinend um mein Leben, stellte ich mein Wachstum ein, ich trank kein Wasser mehr. Ich wurde immer schwächer und schwächer, meine Blätter verwelkten, meine Ästchen waren müde.
    Zum letzen Mal sah ich den Mann auf mich zukommen. Ich spürte noch, dass er mich aus dem Topf riss. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Waldwiese. Der Mann hat mich einfach weggeworfen weil er dachte ich sei schon tot.
    Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Ich war frei!!!
    Lustvoll sog ich die frische Waldluft in meine Lungen, atmete immer wieder tief ein und aus, und ich spürte wie die Lebenskraft in mich zurückkehrte.
    Ich begann zu wachsen, so wie ich wollte, meine Wurzeln suchten sich ihren Weg im nahrhaften Erdreich, mein Stamm wurde im Laufe der Jahre immer größer und kräftiger, ich dehnte mich aus so wie es mir Spaß machte. Meine Äste wurden unendlich groß und ausladend. Sie wuchsen frei vor sich hin. Niemand sagte mehr wie ich zu wachsen hatte und wohin. Voller Lust nahm ich wieder am Leben teil. Es kümmerte mich nicht, ob andere Menschen, Tiere oder Pflanzen mich schön fanden oder nicht, Hauptsache, ich fühlte mich wohl. Und das tat ich. Denn ich lebte jetzt mein Leben, so wie ich es für richtig fand. Und das war gut so.
    Im Laufe der Jahre sind um mich herum andere Bäume gewachsen, jeder so wie er es für sich richtig empfand. Und wenn ich mich nun so in unserem kleinen Wäldchen umsah, sah ich eine Vielfalt von Leben und lauter einzelne Baumpersönlichkeiten.
    Wir fühlen uns wohl und zufrieden, so lange wir leben.
    (W. Schmitt)

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